* 38 *

38. Aufgetaut
Buch

Deer Lehrling kauerte in der Ecke am Kamin, und Berta hing immer noch an seinem herabhängenden feuchten Ärmel. Jenna und Nicko verriegelten alle Türen und Fenster, dann betrauten sie Junge 412 mit der Bewachung des Lehrlings und gingen in die Küche, um nachzusehen, wie es dem Boggart ging.

Er lag in der Zinnbadewanne, ein kleines braunes Fellknäuel auf einem weißen Bettlaken, das Tante Zelda unter ihn gelegt hatte. Er öffnete halb die Augen und betrachtete die Besucher mit trübem Blick.

»Hallo, Mr Boggart. Geht es Ihnen besser?«, fragte Jenna.

Der Boggart antwortete nicht. Tante Zelda tauchte einen Schwamm in einen Eimer mit warmem Wasser und wusch ihn sachte ab.

»Boggarts muss man immer feucht halten«, sagte sie. »Ein trockener Boggart ist kein glücklicher Boggart.«

»Er sieht nicht gut aus«, flüsterte Jenna Nicko zu, als sie mit Tante Zelda auf Zehenspitzen aus der Küche schlichen.

Der Jäger stand immer noch sprungbereit vor der Küchentür und sah Jenna hasserfüllt an. Seine stechenden hellblauen Augen hefteten sich auf sie und folgten ihr quer durch den Raum. Aber der Rest von ihm blieb so unbeweglich wie zuvor.

Jenna spürte seinen Blick und schaute auf. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter. »Er guckt mich an!«, rief sie. »Seine Augen folgen mir!«

»Ach du grüne Neune«, sagte Tante Zelda. »Er taut langsam auf. Besser, ich nehme das Ding da an mich, bevor noch was passiert.«

Sie zog die Silberpistole aus der gefrorenen Hand des Jägers. Seine Augen funkelten zornig, als sie die Waffe sachkundig öffnete und eine kleine silberne Kugel aus der Kammer nahm.

»Hier«, sagte sie und reichte die Kugel Jenna. »Zehn Jahre lang hat sie dich gesucht, jetzt ist die Suche vorbei. Dir kann nichts mehr passieren.«

Jenna lächelte unsicher und ließ die Silberkugel mit einem Gefühl des Widerwillens auf ihrem Handteller herumrollen. Sie konnte nicht anders, sie musste sie einfach bewundern. Sie war vollkommen. Nein, nicht ganz. Sie hob sie hoch und kniff die Augen zusammen. Die Kugel hatte eine winzige Kerbe. Zu ihrer Überraschung waren Buchstaben in das Silber geritzt: K.P.

»Was bedeutet K. P.?«, fragte sie Tante Zelda. »Das steht hier auf der Kugel.«

Tante Zelda antwortete nicht gleich. Sie wusste, was die Buchstaben bedeuteten, doch sie war sich unschlüssig, ob sie es Jenna sagen sollte.

»K. P.«, murmelte Jenna und überlegte. »K. P....«

»Kindprinzessin«, sagte Tante Zelda. »Eine Kugel mit Namen. Eine Kugel mit Namen findet immer ihr Ziel. Es spielt keine Rolle, wann oder wie, aber finden tut sie einen immer. So wie deine Kugel dich gefunden hat. Wenn auch nicht so, wie es beabsichtigt war.«

»Oh«, sagte Jenna ruhig. »Dann hatte die andere, die für meine Mutter bestimmt war, auch ...«

»Ja. Sie hatte ein K.«

»Ah. Kann ich auch die Pistole haben?«, fragte Jenna.

Tante Zelda sah sie überrascht an. »Nun ja, ich denke schon«, sagte sie. »Wenn du sie wirklich willst.«

Jenna nahm die Waffe und hielt sie so, wie sie es beim Jäger und bei der Mörderin gesehen hatte. Sie spürte ihr Gewicht und das seltsame Gefühl der Macht, das sie dem gab, der sie hielt.

Sie bedankte sich bei Tante Zelda und gab ihr die Pistole zurück. »Kannst du sie für mich aufbewahren? Vorläufig?«

Die Augen des Jägers folgten Tante Zelda, als sie die Pistole zum Schrank für Unbeständige Tränke und Spezialgifte trug und wegschloss. Und sie folgten ihr, als sie zu ihm trat und seine Ohren befühlte. Der Jäger sah wütend aus. Seine Brauen zuckten, und seine Augen blitzten zornig, aber sonst regte sich nichts.

»Gut«, befand Tante Zelda, »seine Ohren sind noch gefroren. Er kann also nicht hören, was wir sagen. Wir müssen uns entscheiden, was wir mit ihm anstellen, bevor er auftaut.«

»Kannst du ihn nicht einfach wieder einfrieren?«, fragte Jenna.

Tante Zelda schüttelte den Kopf. »Leider nein. Man soll niemanden wieder einfrieren, wenn er bereits angetaut ist. Das ist riskant. Er kann Gefrierbrand kriegen. Oder sonst irgendwie matschig werden. Kein schöner Anblick. Aber trotzdem, der Jäger ist gefährlich und wird die Jagd nicht aufgeben. Niemals. Irgendwie müssen wir ihn davon abbringen, uns zu jagen.«

Jenna überlegte. »Wir müssen dafür sorgen, dass er alles vergisst. Sogar, wer er ist.« Sie kicherte. »Wir könnten ihn dazu bringen, dass er sich für einen Löwenbändiger hält oder so was.«

»Und dann geht er zum Zirkus«, setzte Nicko hinzu, »und stellt fest, dass er keiner ist, und zwar kurz nachdem er seinen Kopf in das Maul eines Löwen gesteckt hat.«

»Wir dürfen die Magie nicht dazu missbrauchen, ein Leben in Gefahr zu bringen«, rief ihnen Tante Zelda ins Gedächtnis.

»Dann wird er eben ein Clown«, sagte Jenna. »Komisch aussehen tut er ja.«

»Wie ich gehört habe, soll in den nächsten Tagen ein Zirkus nach Port kommen. Da findet er bestimmt Arbeit.« Tante Zelda grinste. »Die nehmen jeden, habe ich mir sagen lassen.«

Sie holte ein altes zerfleddertes Buch mit dem Titel Magische Erinnerungen.

»Du kannst so was gut«, sagte sie zu Junge 412 und reichte ihm das Buch. »Würdest du mir bitte den richtigen Zauber heraussuchen? Ich glaube, er heißt Schurkengedächtnis.«

Junge 412 blätterte in dem modrigen Buch. Es gehörte zu denen, in denen die meisten Charms fehlten, aber auf den letzten Seiten fand er, was er suchte: ein kleines verknotetes Taschentuch, auf dessen Rand in verschmierten schwarzen Buchstaben etwas geschrieben stand.

»Gut«, sagte Tante Zelda. »Könntest du den Zauber für uns sprechen?«

»Ich?«, fragte Junge 412 überrascht.

»Wenn es dir nichts ausmacht«, antwortete Tante Zelda. »Meine Augen lassen mich bei dem Licht im Stich.« Sie fasste dem Jäger an die Ohren. Sie waren warm. Der Jäger kniff die Augen zusammen und durchbohrte sie mit dem bekannten eisigen Blick. Niemand nahm davon Notiz.

»Er kann jetzt hören«, sagte sie. »Wir sollten die Sache hinter uns bringen, bevor er auch wieder sprechen kann.«

Junge 412 las sorgfältig die Anleitung zu dem Zauber. Dann hielt er das Taschentuch mit dem Knoten darin in die Höhe und sagte:

»Was du im Leben auch immer getan,
es sei dir verloren von Stunde an.«

Junge 412 wedelte mit dem Taschentuch vor den Augen des Jägers herum, dann löste er den Knoten. Der Blick des Jägers wurde leer. Er war nicht mehr drohend, sondern verwirrt und vielleicht sogar etwas ängstlich.

»Gut«, sagte Tante Zelda. »So weit hat anscheinend alles geklappt. Würdest du bitte weitermachen?«

Junge 412 sprach ruhig:

»So vernimm nun dein neues Werden und Wesen,
Und merke dir, wie es anders gewesen.«

Tante Zelda baute sich vor dem Jäger auf und sagte mit fester Stimme zu ihm: »Hier ist die Geschichte deines Lebens. Du kamst in Port in einem Viehschuppen zur Welt.«

»Du warst ein schreckliches Kind«, fuhr Jenna fort. »Und du hattest Pickel.«

»Keiner mochte dich«, fügte Nicko hinzu.

Der Jäger sah immer unglücklicher aus.

»Bis auf deinen Hund«, sagte Jenna, die ein klein wenig Mitleid mit ihm bekam.

»Und der ist gestorben«, sagte Nicko.

»Nicko«, protestierte Jenna, »sei nicht so gemein.«

»Ich? Und was ist mit ihm?«

Und so wurde das furchtbar tragische Leben des Jägers vor ihm ausgebreitet. Es war eine einzige Verkettung bedauerlicher Zufälle, dummer Missgeschicke und höchst peinlicher Situationen, die nun, da er sich plötzlich an sie erinnerte, seine aufgetauten Ohren rot anlaufen ließen. Die traurige Geschichte endete mit seiner leidvollen Lehrzeit bei einem jähzornigen Clown, den alle, die für ihn arbeiteten, nur Stinkmaul nannten.

Der Lehrling verfolgte alles mit einer Mischung aus Schadenfreude und Entsetzen. Der Jäger hatte ihn lange gepiesackt, und so war er froh, dass es ihm endlich mal jemand zeigte. Aber gleichzeitig musste er sich auch fragen, was sie wohl mit ihm selbst vorhatten.

Als die betrübliche Lebensgeschichte des Jägers endete, machte Junge 412 wieder einen Knoten in das Taschentuch und sagte:

»Was dein Leben einst war, ist nun dahin,
ein andres Gestern gilt fürderhin.«

Mit einiger Mühe trugen sie den Jäger wie ein breites, sperriges Brett ins Freie und stellten ihn an den Mott, damit er vollends auftauen konnte, ohne im Weg zu stehen. Der Magog schenkte ihm keine Beachtung. Er hatte soeben seinen achtunddreißigsten Panzerkäfer aus dem Schlamm geschaufelt und sann nun darüber nach, ob er ihm die Flügel ausreißen sollte, bevor er ihn verflüssigte.

»Schenkt mir irgendwann mal einen schönen Gartenzwerg«, sagte Tante Zelda, während sie angewidert ihren neuen betrachtete, der, wie sie hoffte, nur vorübergehend ihren Garten verunzierte. »Das war gute Arbeit. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wer der Lehrling ist.«

»Septimus ...«, grübelte Jenna. »Das kann ich nicht glauben. Was werden Mum und Dad dazu sagen? Er ist so gemein.«

»Nun ja«, sagte Tante Zelda, »er ist bei DomDaniel aufgewachsen, das ist ihm nicht gut bekommen.«

»Junge 412 ist in der Jungarmee aufgewachsen und trotzdem in Ordnung«, betonte Jenna. »Er hätte nie auf den Boggart geschossen.«

»Ich weiß«, pflichtete Tante Zelda bei, »aber vielleicht bessert sich der Lehrling ... äh ... Septimus ja mit der Zeit.«

Einige Zeit später, in den frühen Morgenstunden, als sie sich endlich schlafen gelegt hatten – Junge 412 hatte den grünen Stein, den Jenna ihm geschenkt hatte, unter seine Decke geschoben, um ihn warm zu halten und bei sich zu haben –, klopfte es zaghaft an die Tür.

Jenna setzte sich erschrocken auf. Wer war das? Sie weckte Nicko und Junge 412 mit einem Stups, kroch zum Fenster und öffnete den Laden geräuschlos einen Spalt.

Nicko und Junge 412 postierten sich, mit einem Besenstiel und einer schweren Lampe bewaffnet, an der Tür.

Der Lehrling hockte in seiner dunklen Ecke am Kamin und grinste selbstgefällig. DomDaniel hatte ihm eine Rettungsmannschaft geschickt.

Eine Rettungsmannschaft war es nicht, und dennoch erbleichte Jenna, als sie sah, wer draußen stand.

»Es ist der Jäger«, flüsterte sie.

»Der kommt mir nicht ins Haus«, sagte Nicko. »Auf keinen Fall.«

Der Jäger klopfte erneut, lauter diesmal.

»Verschwinde!«, schrie Jenna.

Tante Zelda kam aus der Küche, wo sie den Boggart gepflegt hatte.

»Frag ihn, was er will«, sagte sie, »dann können wir ihn fortschicken.«

Jenna öffnete, obwohl sich alles in ihr dagegen sträubte. Der Jäger war kaum wieder zu erkennen. Er trug zwar noch die Uniform eines Jägers, aber er sah nicht mehr wie einer aus. Er hatte sich in den dicken grünen Umhang gewickelt wie ein Bettler in eine Decke und stand verlegen und leicht gebeugt in der Tür.

»Verzeihung, wenn ich die Herrschaften zu dieser späten Stunde noch störe«, murmelte er, »aber ich habe mich verlaufen. Könnten Sie mir vielleicht den Weg nach Port zeigen?«

»Da lang«, antwortete Jenna knapp und deutete über die Marschen.

Der Jäger schien verwirrt. »Mein Orientierungssinn ist nicht der beste, Miss. Wo lang genau, wenn ich fragen darf?«

»Folgen Sie dem Mond«, riet ihm Tante Zelda. »Er wird sie führen.«

Der Jäger verbeugte sich respektvoll. »Herzlichen Dank, Madam. Verzeihen Sie die Frage, aber wissen Sie zufällig, ob ein Zirkus in der Stadt erwartet wird? Ich hoffe nämlich auf eine Anstellung als Clown.«

Jenna unterdrückte ein Lachen.

»Ja, zufällig wird einer erwartet«, antwortete ihm Tante Zelda. »Äh, würden Sie einen Augenblick warten?« Sie verschwand in der Küche und kam mit einem kleinen Beutel wieder, der Brot und Käse enthielt.

»Hier, nehmen Sie«, sagte sie, »und viel Glück in Ihrem neuen Leben.«

Der Jäger verbeugte sich abermals.

»Haben Sie vielen Dank, Madam«, sagte er. Er ging hinunter zum Mott, vorbei an dem schlafenden Magog und seinem schmalen schwarzen Kanu, das er offensichtlich nicht wieder erkannte, und dann über die Brücke.

Vier Personen standen schweigend in der Tür und blickten der einsamen Gestalt des Jägers nach, die unsicher durch die Marram-Marschen stapfte, ihrem neuen Leben in Fishhead’s and Durdle’s Wanderzirkus und Tierschau entgegen. Dann schob sich eine Wolke vor den Mond, und über die Marschen senkte sich wieder Dunkelheit.

Septimus Heap 01 - Magyk
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